Graciano Rocchigiani Arbeiter und Boxer ein Nachruf

Er war der Aussenseiter und Punk unter den Boxern. Anm. Jungle World: Ein Nachruf auf den zweimaligen Boxweltmeister Graciano Rocchigiani

Working Class Hero im Boxring


Graciano Rocchigiani kam aus der abgehängten westdeutschen Arbeiterklasse, trotz seiner sportlichen Erfolge war er vom Leben gebeutelt. Ein Nachruf auf den zweimaligen Boxweltmeister.
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Zuletzt soll es Graciano Rocchigiani wieder ganz gut gegangen sein. Von Skandalen hatte man lange nichts mehr gehört, als Fernsehexperte war der frühere Boxweltmeister gefragt, der Fernsehsender Sport 1 legte sogar eine Show »The Next Rocky« auf, wo er als Juror mitentscheiden konnte, ob sich Boxtalente finden, und in dem Boxstudio, das er in Berlin betrieb, boxten einige junge Männer und Frauen, denen man eine größere Karriere zutrauen konnte. Einen ­guten Trainer hatten sie ja.
Rocchigiani war zwei Mal in seinem Leben Weltmeister, in den neunziger Jahren war er einer der besten Supermittel- und Halbschwergewichtler der Welt. 1983, da war er noch keine 20 Jahre alt, wurde »Gratze«, wie ihn seine Freunde riefen, Profi. Gemeinsam mit seinem Bruder Ralf – auch der wurde später Profiweltmeister – wechselte er von den Amateuren ins Berufslager, weil der ­Verband ihnen keine Jobperspektive bieten wollte.

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Eine Berufsausbildung hatte Rocchigiani nicht: Schule abgebrochen, Lehre als Gebäudereiniger abgebrochen, nichts sonst in Angriff genommen. Aber boxen konnte er. Das hatte er bei den Sportfreunden Neukölln gelernt, also hatte der 1963 in Duisburg-Rheinhausen geborene junge Mann doch etwas fürs Leben. Etwas sehr Besonderes. 1985 wurde er deutscher Meister im Mittelgewicht, ein Jahr später gewann er den Titel bei den Halbschweren, und schon 1988, im Alter von 24 Jahren, wurde Rocchigiani Weltmeister. In der damals neu eingeführten Klasse des Supermittelgewichts holte er sich in Düsseldorf den Titel des Verbands IBF. Den verteidigte er noch zwei Mal – einmal politisch hochumstritten, weil er in Berlin gegen den schwarzen Südafrikaner Thulani »Sugar Boy« Malinga kämpfte und das international isolierte Apartheid­regime ungewöhnlich viel Geld zahlte, um den Kampf im Fernsehen zu übertragen.

Wie für Freunde des Politkitsches erfunden, war Rocchigiani in Duisburg-Rheinhausen geboren, dem Symbol für die Abwicklung der Schwerindustrie, für das Ende einer starken, gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung.
Später legte Rocchigiani freiwillig seinen Titel nieder. Das hatte nichts mit der Kritik am Kampf gegen Malinga zu tun, es war Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit – mit sich, mit der Welt, mit seinem Kampf­gewicht. Er musste sich damals in einem Prozess wegen Erpressung, Zuhälterei und Menschenhandel verantworten und wurde in erster Instanz sogar verurteilt. Die zweite Instanz hob das Urteil auf, wegen – man kann es nicht deutlich genug sagen – erwiesener Unschuld.
Die neunziger Jahre begannen, RTL vermarktete Profiboxen, mit Henry Maske wurde ein ostdeutscher »Gentleman« aufgebaut, und bald stellte sich heraus, dass es in Deutschland drei Weltklassehalbschwergewichtler gab: Neben Maske noch den aus Polen stammenden Dariusz Michal­czewski, und dann war da noch ­dieser Graciano Rocchigiani aus dem proletarischen Westberlin.
Alle drei repräsentierten etwas: Maske war das Angebot an die Mittelschicht, im früher verrufenen Boxen etwas Seriöses zu erblicken. Michalczewski war der Repräsentant der migrantischen Bevölkerung. Und Rocchigiani, der, wie es beinahe in jedem Artikel über ihn heißt, Sohn eines sardischen Eisenbiegers, war der working class hero, einer aus der abgehängten westdeutschen Arbeiterklasse. Wie für Freunde des Politkitsches erfunden, war Rocchigiani in Duisburg-Rheinhausen ­geboren, dem Symbol für die Abwicklung der Schwerindustrie, für das Ende einer starken gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung.
Als Repräsentanten unterschiedlicher Sozialtypen agierten die drei deutschen Halbschwergewichtler auch untereinander. Maske, recht bald Weltmeister des Verbandes IBF, verteidigte seinen Titel nie außerhalb Deutschlands; auch einem Kampf gegen Michalczewski ging er aus dem Weg. Migranten aus Polen oder anderswo waren im von RTL für das Samstagabendprogramm herausgeputzten Profiboxen so wenig präsent wie sonst in der Öffentlichkeit.
Nur Rocchigiani, der gegen seinen Abstieg kämpfende Prolet, war der­jenige, der sich an beiden versuchte: Jeweils zwei Kämpfe gegen Maske und Michalczewski gab es, und beide hatten einen ähnlichen Verlauf. Den ersten Kampf dominierte Rocchigiani: Maske brachte er 1995 sogar einen Niederschlag bei und verlor dann doch nach Punkten; Michalczewski rettete sich 1996 durch eine unfaire Showeinlage und einen Regeltrick, so dass Rocchigiani disqualifiziert wurde. Und die Rückkämpfe verlor Rocchigiani jeweils sang- und klanglos: gegen Maske eindeutig, gegen Michalczewski gab Rocchigiani gar auf. Die politische Botschaft dieser boxerischen Inszenierung lautete: Widerstand lohnt nicht, am Ende gewinnen eh die Falschen.
Wie sehr das Boxen ein gesellschaftliches Narrativ liefert, kann man an der Profiszene der neunziger Jahre sehr eindrücklich beobachten. Der betrogene Rocchigiani, das war die Erzählung, die umging. Dazu noch der Aufsteiger Maske, der später eine McDonalds-Filiale übernahm. Und Michalczewski, der nach Polen zurückging und dort beruflich scheiterte. Dass er in seinem Heimatland schon seit Jahren für LGBT-Rechte kämpft, wird hierzulande kaum wahrgenommen; das Narrativ ist einer empirischen Überprüfung nicht immer zugänglich.
Gerade die Auseinandersetzungen zwischen Maske und Rocchigiani lassen sich verstehen al die in den Boxring und vor großes Publikum verlegten Kämpfe um die soziale Ausgestaltung Deutschlands nach der Wiedervereinigung. »Anpassung, dit hat der Typ doch studiert«, ätzte Rocchigiani in Richtung des früheren NVA-Oberleutnants Maske. »Wenn ick Leute auf der Straße reden höre, heißt es entweder: Hau dem Wessi auf die Schnauze. Oder: Hau dem Ossi auf die Schnauze.« Wo Maske eine konfliktfreie gesellschaftliche Entwicklung in Richtung blühender Landschaften verkörpern sollte (»Diese Problematik sehe ich nicht so«), da stand Rocchigiani für un­gefilterte Ehrlichkeit: »Det Volk sieht det so, det ist nun mal so.«
Rein sportlich betrachtet erreichte Rocchigiani den Höhepunkt seiner Karriere 1998: Er schlug in Berlin den US-Amerikaner
Michael Nunn und wurde Halbschwergewichtsweltmeister der WBC. Deren Titelhalter, der damalige Superstar Roy Jones Jr., hatte seinen Gürtel nämlich niedergelegt, der Titel war vakant. Nur: Offiziell hatte Jones nicht verzichtet und, was schwerer wog, auf den berühmten Namen Roy Jones Jr., der für hoch dotierte Fernsehverträge sorgte, wollte die WBC nicht verzichten.
Also machte sie aus dem frisch gebackenen Champion Rocchigiani einen Interims-Weltmeister. Der war sauer, klagte, erhielt recht und 31 Millionen US-Dollar Entschädigung. Die WBC meldete Konkurs an, um das Geld nicht zahlen zu müssen, zumal Rocchigiani die Ratschläge seiner Anwälte, einen Vergleich zu akzeptieren, ausschlug.
Rocchigiani saß, während er vor Gericht um seinen WM-Titel kämpfte, im Gefängnis. Fahren ohne Führerschein, Widerstand gegen Polizisten, betrunkenes Autofahren – irgendwann war keine Bewährung mehr möglich. Auch nach dieser Knasterfahrung änderte sich Rocchigiani nicht. Einmal wurde er besoffen in einem fremden Auto schlafend aufgefunden, einmal brach er in Wien einem Mann die Nase, weil der seinen Hund beleidigt hatte. Rocchigiani konnte nicht aus seiner Haut, auch wenn er wusste, wie sehr ihm das schadete.
Das galt auch für das Scheitern seiner Ehe. Seine spätere Frau Christine war Bedienung in einer Kneipe, als er sie kennenlernte. Sie half ihm Anfang der Neunziger, sich wieder auf sein Talent zu besinnen, sie managte ihn, besorgte ihm gute Verträge bei Promotern und auch nach ihrer Scheidung kümmerte sie sich noch eine Weile um seine Finanzen – zu Rocchigianis Vorteil.
Inszeniert war bei Rocchigani wenig, sein sich immer wiederholendes Scheitern, oft auf der ganz großen Bühne, war echt. Seine markanten kurzen Sätze à la »Gegner am Boden, jutet Gefühl« machten ihn populär. Dabei waren gerade solche Sätze eher Ausdruck seiner Scheuheit. Möglichst schnell wollte er Interviews und Pressekonferenzen hinter sich bringen.
Im Jahr 2000, vor dem Rückkampf gegen Dariusz Michalczewski, lieferte er sich ein Wortgefecht mit dem gebürtigen Danziger. »Es gibt dumme Deutsche und es gibt schlaue Deutsche. Und es gibt schlaue Polen, aber du bist ein dummer Pole!« Der Satz wurde berühmt, dabei ver­deckte er, dass sich Rocchigiani und Michalczewski privat und beruflich schätzten. Der Satz war Teil des üblichen Ballyhoos vor einem Kampf, und weder Michalczewski, von seinen Managern als »Tiger« vermarktet, noch Rocchigiani meinten ihre Vorwürfe ernst.
So berühmt Rocchigiani war, so wenig konnte er aus seiner Popularität machen. Während Maske für ­Rasierwasser und die Wiedervereinigung Werbung machte, gab Rocchi­giani im kleinen unabhängigen Maas-Verlag die Anthologie »TKO« heraus, amerikanische Pulp-Boxgeschichten. 2003 endete seine Profikarriere, es kamen schwierige Zeiten. Eine Weile lebte er von Hartz IV, diverse Box­studio-Projekte scheiterten. Nur halbseidene Events wie »Promiboxen« ließen ihn noch als griesgrämigen Coach in die Öffentlichkeit zurückkehren.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass er, obwohl schon deutlich über 50 Jahre alt, sogar Comeback-Gerüchte streute – es sollte gegen Roy Jones Jr. gehen. Ernst waren die nicht zu nehmen, aber Rocchigiani hatte sehr ernsthafte Pläne mit seinen Schützlingen im Boxstudio. Privat pendelte er regelmäßig zwischen Berlin und Sizilien, wo seine Freundin mit ihren beiden gemeinsamen Kindern lebte.
In der vergangenen Woche ist der frühere Boxweltmeister Graciano Rocchigiani von einem Auto erfasst worden und an den Folgen der Verletzungen gestorben.
In Berlin wird derzeit diskutiert, ob der Kreisverkehr rund um die Siegessäule künftig Helmut-Kohl-Platz heißen soll. Bislang war leider noch keine Wortmeldung zu vernehmen, die das Naheliegende fordert: dass dies der Graciano-Rocchigiani-Ring wird. 
Requiescat in pace.  Ruhe un Frieden. R. I. P.

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